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Ein Wort über Ökologie

Jeden Dienstag kommt eine Gemüse- und Früchtelieferung in die Internationalistische Kommune in Rojava. Die Freunde bringen uns Tomaten, Kartoffeln, Äpfel, Orangen, Zwiebeln, Kohl, Lattich und vieles mehr, immer abhängig von der Jahreszeit. Manchmal ist das Gemüse ziemlich anders als ich es von den europäischen Supermärkten in meiner Heimat kenne. Ich habe hier schon riesig große Kartoffeln gesehen, total unförmige Tomaten und krumme Gurken. Das führt natürlich zu Fragen. Was passiert mit all dem Gemüse in meiner Heimat, das auch nur ein bisschen von der geforderten Norm abweicht? Wieso essen wir immer dieselben Sorten? Gab es nicht einmal einen vielfältigen Reichtum an verschiedenen Kartoffeln in deren Ursprungskontinent, Südamerika? Kommen nicht auch Tomaten von dort? Und Kürbis, Tabak und Kaffee und Kakao? Was haben denn meine Vorfahren in Europa gegessen? Wie kann es überhaupt sein, dass ich nach 23 Jahren zum ersten Mal etwas esse, was ich selbst angepflanzt und aus dem Boden gezogen habe? Wie kann es sein, dass ich jahrelang immer Fleisch gegessen habe, aber noch nie ein Tier selbst getötet habe, das größer ist als eine Maus? Ich war noch nicht einmal Zeuge dabei. Ich habe keine einzige Ernte mitgemacht und nie Pflanzen wässern müssen, um etwas zu essen zu haben. Ich fühle mich schon lange sehr entfremdet von der Natur, von mir selbst, besonders wenn ich tiefer darüber nachdenke oder zu lange am Computer arbeite. Ich schaue um mich und sehe vieles, das sich falsch anfühlt, besonders in den Städten Europas. Dinge, die so gar nicht existieren sollten. Nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch aus moralischer, aus ethischer Perspektive. Ich werde dann eweils ein bisschen wütend, ein bisschen traurig, aber vor allem regt sich Widerstand in mir. Ich spüre den unabdingbaren Willen, diese Realität zu verändern.

Dieser Wille hat mich nach Rojava geführt.

Hier lerne ich ganz andere Lebensrealitäten kennen, mit schwerwiegenden anderen Problemen. Die Ökologie rückt in den Hintergrund. Ich lerne langsam, langsam, was Krieg bedeuten kann. Ich sehe mich selbst gespiegelt in den imperialistischen Mächten und lerne Zärtlichkeit zur gleichen Zeit. Der Begriff “Sozialismus“ wird verständlicher und endlich finden auch Frauen nach und nach einen Platz in meinem Geschichtsbild. Mir werden die großen, auf Kolonialismus beruhenden, materiellen Privilegien, wie auch die extremen ideologischen Widersprüche in meinem Heimatland immer bewusster. Die Dringlichkeit der Demokratie, die Notwendigkeit einer Revolution, ist mir klarer denn je. Auch meine Bereitschaft, alles zu tun, was dafür nötig ist, ist so groß wie noch nie. Was mich aufgeweckt hat aus meiner kleinbürgerlichen Blase, war das bereits beschriebene Gefühl: Die mangelnde Verbindung zur Natur. Die ökologische Perspektive. Und ich werde das nicht vergessen. Ich bin überzeugt, dass es vielen so geht. Dass der Ursprung aller ökologischen Probleme in hierarchischen sozialen Strukturen mit konkreten Ideologien, Systemen und Machthabern liegt, ist klar. Einen grünen Kapitalismus gibt es nicht. Das beginnt auch die junge Generation zu begreifen, die mit ihren Reform-Forderungen von starren Regimen und heuchlerischen Konzernen mit falschen Versprechen und Scheinlösungen abgetan wird. Alles andere als eine tiefgreifende gesellschaftliche Revolution wird nur „Symptombekämpfung“ bleiben. Der soziale Kampf ist also auch der entscheidende, was die Klimaerwärmung angeht und sollte die dringendste Frage von jedem umwelt- und klimaaktivistischen Menschen sein.


Wieso aber, müssen soziale Bewegungen und Revolutionen, wie in Rojava, sogar in schwierigen Zeiten großen Wert auf die ökologischen Herausforderungen legen?

Die ökologische Krise, wie auch die Unterdrückung der Frau, teilen den gleichen Ursprung: Die Entstehung der anti-demokratischen patriarchalen Gesellschaft, gefestigt im ersten Staatssystem vor 5000 Jahren. Bis heute haben Frauen meist eine stärkere Verbindung zur Natur. Frauen sind die Quelle des Lebens und tragen bis heute die Züge des kommunalen Lebens weiter. Es ist kein Zufall, dass wir von „Mutter Erde“ sprechen. Abdullah Öcalan beschreibt die Frau als erste kolonialisierte Gruppe in der Menschheit. Es ist also die Herrschaft des Menschen über andere Menschen, die den Weg für Ausbeutung und Chauvinismus bereitete. Auf dieser Grundlage veränderte sich auch die Beziehung des Menschen zur Natur. Während sich die Gesellschaft über zehntausende von Jahren in symbiotischer Beziehung zu allem Lebenden im Universum befand, begann mit Aufstieg des Patriarchats die überhebliche Herrschaft des Menschen über die Natur. Es gleicht dem Sohn, der Herrschaft über seine Mutter erlangen will. Der Kampf der Frauen gegen patriarchale Unterdrückung durch die Zivilisationsgeschichte hinweg, ist immer auch als Kampf der natürlichen, mit der Natur im Einklang lebenden Gesellschaft gegen die ausbeuterische kapitalistische Moderne zu verstehen. Es wird deutlich, dass die Befreiung der Frau und eine ökologische Gesellschaft nicht losgelöst sind voneinander. Eine soziale Revolution, die nicht auch eine ökologische ist und mit der Befreiung der Frau verbunden ist, kann dementsprechend nicht nachhaltig sein. Abdullah Öcalan schreibt in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“:

“Ein gesellschaftliches Bewusstsein, dem es an ökologischem Bewusstsein fehlt, wird zwangsläufig korrumpieren und zerfallen, wie man am Realsozialismus gesehen hat. Das ökologische Bewusstsein ist ein fundamental ideologisches Bewusstsein. Es gleicht einer Brücke zwischen Philosophie und Moral. Eine Politik, die Rettung aus der gegenwärtigen Krise verspricht, kann nur dann zu einem richtigen gesellschaftlichen System führen, wenn sie ökologisch ist.“

Eine demokratische Gesellschaft erfordert die Kraft zur Selbstverteidigung, wie auch zur Selbstversorgung jeder Gemeinschaft. Wir können nur frei leben, wenn wir uns selbst ernähren können. Wir müssen lernen so zu leben, dass wir nicht mehr länger auf Bodenschätze, Industrie und Importe angewiesen sind. Es ist entscheidend, die auf Profit und fortwährendes Wachstum ausgerichtete Wirtschaftslogik der Kapitalistischen Moderne endlich zu überwinden. Der Schlüssel dazu liegt in unserer Beziehung zur Natur.

Local

In Rojava gibt es in den meisten Kommunen eine Kommission für Ökologie. Deren Aufgabe ist unter anderem die Dezentralisierung der Nahrungsversorgung. Es werden Arbeitskooperativen gebildet, um Feldwirtschaft und Verarbeitung zu entprivatisieren. Mit der Kampagne
„Make Rojava Green Again“, die 2018 gegründet wurde, unterstützen wir, die Internationalistische Kommune Rojava, den Aufbau von bedürfnisorientierten kommunalen Gärten, vor allem auch in Stadtvierteln auf den Dächern und Innenhöfen. Auch Bäume werden gepflanzt und dezentralisierte Wasser- und Stromsysteme etabliert. So wird der demokratische Konföderalismus nicht nur auf politischer, metaphysischer Ebene aufgebaut, sondern auch ganz konkret dessen Fundament mit einer Praxis, die auf komplette Selbstversorgung abzielt. Nur durch diese Veränderungen können wir die großen Hierarchien und Machtbeziehungen der Rohstoffhändler und Agrarkonzerne, die die Lebensgrundlagen der Welt bestimmen, zerstören. Eine Demokratie ohne dies ist nicht möglich. Es geht jedoch nicht nur darum, kommunale, ökologische Wirtschaftssysteme aufzubauen, sondern vor allem auch darum, wie wir uns im Charakter verändern. Wie denkt, wie fühlt ein freier Mensch? Wie handelt und bewegt sich ein kommunal lebender Mensch? Ich weiß, dass wir sehr viel von der Natur lernen können. Durch die Arbeit mit der Erde, mit Bäumen, Weizen und Tieren säubern wir unseren Kopf und unsere Herzen von all den Systemkrankheiten, die uns aufgezwungen wurden und die wir selbst verkörpern. Wir finden näher zu unserer eigenen Natur, indem wir erfahren, wie lebendig alles um uns herum ist. Gartenarbeit im Kollektiv lehrt uns Geduld, Kreativität und Selbstdisziplin gleichermaßen. Die Verbindung zu dem Boden, auf dem wir stehen, von dem wir leben, wächst mit jedem Strauch, den wir pflegen und somit auch die Bereitschaft, diesen zu verteidigen. Wir lernen nirgends besser bescheiden zu sein. Besitzverhältnisse werden neu hinterfragt und die komplexesten Probleme werden aufgelöst durch die Einfachheit des natürlichen Lebens.

Global

Dass der ökologische Kampf ein globaler ist und von uns allen internationalistisch geführt werden muss, ist offensichtlich. Die Entfremdung von der Natur spüren wir alle. Es gibt keinen Kampf, der uns mehr und einfacher verbinden kann als der ökologische und auch keinen, der engere Zusammenarbeit fordert. Das wissen alle indigenen Widerstandsgruppen wie auch die Klimajugend. Das hat Gaura Devi gewusst und das weiß Öcalan. Die Klimafrage ist einfach: Wir schaffen es als Menschheit, die globalen Treibhausgase schnell ausreichend stark zu reduzieren oder das Klima wird sich unaufhaltsam erhitzen. Wir kämpfen jetzt für eine grüne Zukunft oder wir haben keine. Diese einfache Tatsache hat sogar mich aus meinem realitätsfernen, kleinbürgerlichen Leben gerüttelt. Die ersten Auswirkungen der Klimaerwärmung spüren Menschen im globalen Süden, die sowieso schon jetzt stark unter kapitalistischer Ausbeutung leiden. Der Grundwasserspiegel hier in Rojava zum Beispiel sinkt jedes Jahr und der Boden wird trockener und brüchiger. Auf der Suche nach den Ursprüngen des Problems blickt eine ganze Generation von der nördlichen Hemisphäre in den globalen Süden. Ihre Parolen rund um „Klimagerechtigkeit“ bedeuten anti-kolonialistischen Kampf. Die Jugend muss sich stärker radikalisieren. Die Revolution ist in der Peripherie des bestehenden Systems ausgebrochen, während auf den Straßen, in den Zentren der kapitalistischen Moderne, unglaublicher Druck der Jugend entstehen muss. Das ist ihre Rolle und ihre Verantwortung. „Make Rojava Green Again“ wird natürlich auch im internationalistischen Kontext geführt. Das Ziel der Kampagne ist es, mit der revolutionären Praxis in Rojava allen ökologischen Bewegungen der Welt ein Vorbild zu sein und diesen einen gemeinsamen Bezugspunkt zu bieten. Über die Arbeiten mit der Kampagne und mit dem Angebot in deren Rahmen nach Rojava zu reisen, sollen konkrete Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch gegeben werden. Das ist essentiell für die globale Vernetzung unserer Kämpfe wie auch für die Verteidigung Rojavas!

Dieser Text wurde als Artikel im Magazin Lêgerîn nº 07 veröffentlicht.

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